Ariane Ludwig im Interview: „Kommentieren heißt häufig, Möglichkeiten anzubieten“

(Foto: Katharina Oelze).

Von Gesine Heger und Katharina Zimmermann.

Ariane Ludwig hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Lateinische Philologie in Mainz studiert. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar. Im Interview berichtet sie über ihre Arbeit mit Goethes Tagebüchern und über Bibliotheken und Archive im Zeitalter der Digitalisierung.

Wie sind Sie ans Goethe- und Schiller-Archiv gekommen? 

Ariane Ludwig: Ohne meinen Doktorvater und seinen großen Enthusiasmus für das Werk Goethes wäre ich nicht dort, wo ich heute bin. Ferner  gab es noch eine Kette glücklicher Zufälle und einige Menschen, die mir sehr geholfen haben, vor allem Edith Zehm, die Mitbegründerin der Edition von Goethes Tagebüchern. Vor fast 20 Jahren hatte ich mich entschlossen, mich bei der Klassik Stiftung in Weimar um ein Praktikum zu bewerben. Einige Monate nach Abschluss des im Jahr 2003 absolvierten Praktikums bin ich aus Begeisterung für die Stadt und deren Geschichte nach Weimar umgezogen, habe dort meine Dissertation geschrieben und zunächst ehrenamtlich, dann in verschiedenen Vertragsverhältnissen an der Klassik Stiftung gearbeitet. Vor einigen Jahren habe ich eine feste Stelle am Goethe- und Schiller-Archiv erhalten.

Hat sich das Studium für Ihre Arbeit als nützlich erwiesen?

Ariane Ludwig: Ich bin von Haus aus keine Germanistin, sondern habe Komparatistik und Lateinische Philologie studiert. Beides hilft mir sehr bei meiner Arbeit an Goethes Tagebüchern. Goethe war ja in vielen Literaturen unterwegs, war vielsprachig interessiert und war zudem ein hervorragender Kenner der Antike. 

Wo arbeiten Sie üblicherweise?

Ariane Ludwig: Mein Hauptarbeitsort ist das Goethe- und Schiller-Archiv. Dort bekommen wir beispielsweise die Handschriften, mit denen wir arbeiten, in den Lesesaal gebracht. Aber nur, wenn es unbedingt notwendig ist. Um die Originale zu schonen, arbeiten wir vor allem mit Digitalisaten. Allerdings lösen sich Probleme, über denen man lange sitzt, oftmals erst bei einem Blick auf das Original der Handschrift.

In der Herzogin Anna Amalia Bibliothek können wir beispielsweise die Bücher einsehen, die Goethe selbst besaß oder ausgeliehen hat, und auch im Hauptstaatsarchiv befinden sich wichtige Quellen. Kolleg*innen von mir waren z. B. auch in Marienbad, um vor Ort Goethes Wege zu erkunden und Kurlisten einzusehen, die wir für die Kommentierung brauchen. 

Was macht das Besondere an Goethes Tagebüchern aus?

Ariane Ludwig: Die Tagebücher erstrecken sich über einen Zeitraum von 57 Jahren, also über weit mehr als die Hälfte seines Lebens. Einigermaßen kontinuierliche Aufzeichnungen beginnen im Jahr 1775. Goethe hat oft nicht selbst geschrieben, sondern die Tagebücher diktiert. Sie dienten vor allem der von Goethe in einem Gespräch mit Friedrich von Müller so genannten „Buchführung mit sich selbst“ und waren nicht primär für die Nachwelt verfasst. Mit den Jahren werden sie immer sachlicher und konzentrierter. Gerade die späteren Tagebücher sind lakonisch, knapp und oft nur stichwortartig; sie erfordern deshalb sehr umfangreiche Kommentierungen. 

Wie gehen Sie mit dieser Fülle an zu kommentierenden Texten um?

Ariane Ludwig: Wir haben die Zuständigkeiten in unserer kleinen Gruppe inhaltlich verteilt, z.B. auf Sachgebiete wie Kunstgeschichte, Naturwissenschaft, Philosophie, Sozialgeschichte, Literatur, Theater und die Genese von Goethes Werken, wie sie sich innerhalb der Tagebücher abzeichnet.

Mit Tagebüchern verbindet man Intimität. Kommt die in Goethes Einträgen auch mal vor? 

Ariane Ludwig: Für Intimität im Sinne der Erforschung von Zuständen und Befindlichkeiten sind die Tagebücher des jungen Goethe aufschlussreich. In den späteren kommt ‚Intimität‘ schon mal vor, jedoch eher versteckt und nicht sehr direkt. Beispielsweise steht in Goethes allerletztem Tagebucheintrag lediglich, dass er wegen Unwohlseins im Bett geblieben sei. Es finden sich durchaus Notizen zu Krankheiten, aber eben keine ausführlichen – ganz anders als z.B. in den Tagebüchern Thomas Manns. Wir haben jedoch auch viele andere Quellen, beispielsweise Briefe von Menschen, die bei ihm waren und berichten, worüber sie mit ihm gesprochen haben. Da erfahren wir dann z.B., dass Goethe bestimmte Dinge gar nicht ins Tagebuch eingetragen hat. Man kann wohl davon ausgehen, dass Goethe die Veröffentlichung seiner Tagebücher zumindest nicht ausgeschlossen hat.

Gibt es auch unleserliche Stellen in den Tagebüchern?

Ariane Ludwig: Natürlich! Es gibt Stellen, die ganz schwer zu lesen sind. Wir veröffentlichen den Textband deshalb nicht vor dem Kommentarband, weil schwierig zu lesende Stellen oft im Rahmen der Arbeit an den Erläuterungen entziffert werden können. Unbekannte Namen sind oft besonders schwierig zu lesen. Man wühlt dann alle Nachschlagewerke wie die kleinen und großen “Paulys” durch und sucht nach passenden Einträgen. Kommentieren heißt häufig, Möglichkeiten anzubieten.

Wie lange arbeiten Sie mit Ihrer Arbeitsgruppe an einer Kommentierung?

Ariane Ludwig: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn ich auf die Arbeit an den vergangenen Band zurückschaue, sind das im Durchschnitt ca. fünf Jahre für einen Doppelband der Edition. Man braucht wirklich einen langen Atem, da man gleichzeitig viele andere Tätigkeiten im Archiv ausübt. Es ist sicherlich von Vorteil, wenn man kontinuierlich in einem Team arbeitet. 

Welche Aufgaben haben Sie neben der Arbeit an den Kommentaren zu Goethes Tagebüchern?

Ariane Ludwig: Ich nehme beispielsweise auch an Workshops sowie Tagungen teil und beteilige mich an der Gestaltung von Ausstellungen im Archiv. 

Wie organisieren Sie Ihren beruflichen Alltag?

Ariane Ludwig: Weil wirklich eine Menge Arbeit zu erledigen ist, muss ich mir die Zeit genau einteilen: Die Kommentierung komplexer Sachverhalte – besonders solcher zur Entstehung von Werken über lange Zeiträume – erfordert Ruhe und Konzentration. Andere eher formale Dinge benötigen nicht unbedingt komplexes Denken, die kann man auch mal dazwischenschieben. Vor allem ist Geduld gefragt, z.B., wenn man auf Antworten zu Anfragen wartet, die man anderen Institutionen gestellt hat. Wenn ich gerade an einer Stelle nicht weiterkomme, eröffne ich eine neue Baustelle.

Was macht das eigentlich mit einem, wenn man in seinem Arbeitsalltag das Leben einer historischen Persönlichkeit rekonstruiert?  Wahrscheinlich muss man da Nähe und Distanz immer von Neuem ausloten, oder?

Ariane Ludwig: Das frage ich mich auch immer wieder, zumal viele Tagebucheinträge gerade durch die Kürze und Lakonie auch Distanz zu schaffen scheinen. Dass ich in Weimar lebe, trägt aber auf jeden Fall dazu bei, dass ich mich den Rahmenbedingungen von Goethes Leben annähern kann. Weimar ist ja eine Stadt, die seit Goethes Zeiten relativ unverändert geblieben ist. Man spürt jedoch, dass man bei der Arbeit an den Tagebüchern immer nur bis zu einem bestimmten Punkt vordringt. Und schließlich will man sich sachlich mit den Dingen auseinandersetzen.

Wie verändert die zunehmende Digitalisierung Ihre Arbeit?

Ariane Ludwig: Auch wir Editionsphilolog*innen müssen uns zunehmend in technische Strukturen einarbeiten, z.B., um an der Propyläen-Plattform arbeiten zu können, auf der die Ausgaben von Goethes Tagebüchern, seiner Briefe, der an ihn gerichteten Briefe und der Begegnungen und Gespräche mit ihm sukzessive veröffentlicht werden. 

Welche Rolle spielen Archive und Bibliotheken in der heutigen Zeit? Müssen sie überhaupt noch so viele Zugangsmöglichkeiten bieten oder reicht nicht auch ein gutes digitales Angebot?

Ariane Ludwig: Bestimmte Fragen können einfach nicht anhand von Digitalisaten geklärt werden. Eine Knicklinie, die das Original aufweist, sieht man oft auf dem Digitalisat nicht. Diese kann aber für die Interpretation von Bedeutung sein! Ein Original hat zudem ja auch eine ganz andere Wertigkeit. Ich finde es zwar begrüßenswert, dass Digitalisate die Bestände schonen, aber ich wünsche mir keinesfalls, dass Bücher und Handschriften aus den verschiedenen Arbeits- und Freizeitbereichen verschwinden. 

Ihre Tätigkeit setzt viel Geduld voraus. Welche Kompetenzen muss man außerdem mitbringen?

Ariane Ludwig: Wichtig ist auf jeden Fall ein sehr gutes Sprachgefühl und vor allem die Bereitschaft, alles zu hinterfragen. Man muss quasi so tun, als würde man den zu kommentierenden Text in eine andere Sprache übersetzen. Erst dann wird einem bewusst, welche Bedeutungen in einzelnen Wörtern stecken können. Dabei sollte man sich immer im Klaren darüber sein, dass sich Sprache ständig verändert. Wenn Goethe beispielsweise das Wort „Abend“ schreibt, dann meint er oft nur die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit, die er wiederum als „Nacht“ bezeichnet; d.h. „Nacht“ bedeutet in seinem Sprachgebrauch auch die frühen Abendstunden. (Entsprechende Einträge findet man im Goethe-Wörterbuch.)

Was können Studierende, die sich für das Berufsfeld Archiv interessieren, im Studium bereits tun? 

Ariane Ludwig: Es ist immer möglich, sich für ein Praktikum zu bewerben. Auch ein Jahr Freiwilligendienst Kultur und Bildung wäre eine Option. Dabei wird man zu verschiedenen Tätigkeiten im Archiv herangezogen, und man lernt dort sehr viel. Natürlich sollte man auch bestimmte Basiskompetenzen erwerben, also etwa fundierte Literaturkenntnisse, aber auch Kenntnisse verschiedener Programmiersprachen.

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