Stephanie Kratz im Interview: „Ich mag den Trubel“ − Eine Lektorin erzählt

Stefanie Kratz im Interview während des Workshops. (Foto: Carsten Vogel)
Stefanie Kratz im Interview während des Workshops. (Foto: Carsten Vogel)

Von Annika Heuser.

Stephanie Kratz ist Lektorin beim Kiepenheuer & Witsch Verlag. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin arbeitet seit 2006 im Programmbereich Sachbuch und hat unter anderem die Bücher von Regisseur Christoph Schlingensief und Politiker Robert Habeck lektoriert. Im Rahmen des Workshops zur Übung „Germanistik im Beruf“ hat sie Annika Heuser von ihrer Arbeit und einer für sie sehr bedeutsamen Zusammenarbeit erzählt.

Frau Kratz, was macht ein gutes Manuskript für Sie aus? Worauf legen Sie besonders viel Wert?

Stephanie Kratz: Am besten kann ich das an einem Beispiel erklären. Ich betreue als Lektorin die Krimi-Reihe von Gil Ribeiro „Lost in Fuseta“. Der Autor hat eine großartige Figur erfunden. Einen Kommissar, der im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms von Deutschland nach Portugal versetzt wird und der das Asperger-Syndrom hat. Als wir das Manuskript des ersten Falles angeboten bekommen haben, wusste ich nach dem Lesen der ersten dreißig Seiten: Das hat ganz großes Potenzial. Weil diese Figur besonders ist, weil man mit allen Figuren in diesem Krimi leben möchte. Das ist ein Beispiel, worauf es ankommen kann: identifikatorisches Lesen.

Unterscheiden sich andere literarische Texte davon?

Kratz: Ja, andere literarische Texte tun das. Selbstverständlich spielen interessante Figuren immer eine wichtige Rolle. Aber welche Texte wir veröffentlichen und welche nicht, hängt auch davon ab, welches Programmprofil wir im Vergleich zu anderen Verlagen haben. KiWi steht in der deutschsprachigen Literatur von Anfang an insbesondere für erzählerische Literatur. Außerdem ist uns ein sehr großes Anliegen, dass wir Texte finden, die auch eine jüngere Generation ansprechen.

Sie arbeiten insbesondere im Sachbuch-Bereich. Worauf kommt es da an?

Kratz: Beim Sachbuch ist es oft so, dass es gar kein Manuskript gibt, sondern nur ein Exposé. Die Fragen sind deshalb eher: Wie gut ist das Exposé? Ist das Thema interessant? Setzt sich das Thema durch? Kann der Autor sein thematisches Anliegen gut in der medialen Öffentlichkeit präsentieren? Welchen Mehrwert hat das Sachbuch im Vergleich zu einem Magazinartikel in einem Zeitung oder Zeitschrift? Im Übrigen verlegen wir im Sachbuch fast nur deutschsprachige Originalausgaben, weil sich nur sehr wenige von den internationalen Titeln in Deutschland durchsetzen.

Verliert man bei manchen eingereichten Texten nicht den Spaß an der Arbeit?

Kratz: Auch da muss man Unterschiede zwischen Belletristik und Sachbuch machen. Ich kann ein bisschen von den Kolleg*innen aus dem Literaturbereich erzählen, die sind manchmal ziemlich frustriert. Speziell in den berühmten Stoßzeiten vor der Buchmesse, wenn wochenlang jeden Tag ein Manuskript nach dem nächsten zur Prüfung kommt. Meist wird nicht das komplette Manuskript gelesen, sondern nur die ersten 20, 30 Seiten. Wenn der Anfang nicht überzeugt, muss man nicht weiterlesen. Natürlich hat man immer Angst, etwas zu verpassen. Es gibt Phasen, in denen wochenlang nichts Brauchbares dabei ist. Irgendwann beginnt man, an sich zu zweifeln. Und dann kommt plötzlich das eine Manuskript, das einen begeistert, und die Freude ist umso größer. Beim Sachbuch ist diese Lesefrusterfahrung nicht so groß.

In Ihrem Beruf treffen Sie auf die unterschiedlichsten Menschen. Können Sie uns von einem besonderen Erlebnis erzählen?

Kratz: Das kann ich aus der Lamäng, wie man in Köln sagt. Ich war die Lektorin von Christoph Schlingensief. Ich habe damals sein Krebs-Tagebuch betreut, ein Tagebuch, das er aber nicht geschrieben, sondern in ein Aufnahmegerät gesprochen hat. Ich hatte einen Stapel von abgetippten Tonbändern bei mir auf dem Schreibtisch liegen und daraus sollte nun ein Buch werden. Wir haben sehr viele SMS hin- und hergeschickt – Christoph Schlingensief war kein großer Telefonierer –, aber einen großen Austausch darüber, was er will und was nicht, hat’s erstmal nicht gegeben. Irgendwann habe ich verstanden: Ich muss das jetzt zunächst nach bestem Wissen und Gewissen  alleine bearbeiten. Es waren sehr merkwürdige Monate für mich; mit dem Krebs-Tagebuch hatte ich einen unglaublich intimen Text vorliegen, von einem Menschen, den ich persönlich noch nie getroffen hatte.

Wann haben Sie Christoph Schlingensief dann persönlich kennengelernt?

Kratz: Nachdem ich nach Berlin zur Pressekonferenz gefahren bin, als das Buch erschien. Ich habe ihn hinterher zu Hause besucht. Das war ein sehr beeindruckender, wunderschöner Moment. Bevor er ein paar Jahre später gestorben ist, hatten wir noch oft Kontakt und ich bin dankbar, ihn kennengelernt zu haben. Er fehlt als künstlerischer Kommentator der Politik und Gesellschaft. Er fehlt sehr.

(Foto: Carsten Vogel)

Gehen Privatbereich und Arbeitsbereich oft ineinander über?

Kratz: Das kann verwischen, ja. Aber grundsätzlich sollte man es trennen. Ich habe da ein, zwei Erfahrungen gemacht, aus denen ich meine Schlüsse gezogen habe. Man muss als Lektor*in sehr aufpassen, dass man den professionellen Abstand bewahrt. Im Beruf bin ich nicht nur Stephanie Kratz, sondern eben auch Verlagsmitarbeiterin.

Kann die Zusammenarbeit mit einem*einer Autor*in auch anstrengend sein?

Kratz: Klar. Für Autoren ist die Veröffentlichung dessen, womit sie sich manchmal jahrelang alleine beschäftigt haben, nun mal ein aufregender Moment. Da kann es natürlich vorkommen, dass man als Lektor beruhigen, ermuntern, trösten (zum Beispiel bei schlechten Kritiken) muss. Das gehört dazu – und das kann natürlich manchmal etwas anstrengend sein.

Sie deuteten eben an, dass Sie bei der Produktion von Schlingensiefs Buch selbst tätig werden mussten? Was genau meinten Sie damit?

Kratz: Ich habe versucht, den mündlichen Charakter beizubehalten, sodass man beim Lesen den Eindruck bekommt, Herr Schlingensief spreche persönlich. Trotzdem konnte man das Material nicht eins zu eins übernehmen. Aus dem Tagebuch wären sonst schnell 600 bis 700 Seiten geworden. Eine Auswahl zu treffen, eine Dramaturgie zu finden, zu unterscheiden, was persönlich ist und was für die Öffentlichkeit bestimmt ist: Das war die Arbeit.

Wie schaffen Sie es, den Stil des*der Autor*in auf der einen Seite zu wahren und auf der anderen Seite trotzdem einzugreifen?

Kratz: Ich weiß, dass ich bei meinen ersten eigenständigen Lektoraten viel zu sehr mit meiner eigenen Sprache, mit meinem eigenen Ton und Stil vorgegangen bin. Das hat sich im Laufe der Jahre reduziert beziehungsweise verfeinert. Ein Vorgang, der automatisch stattfindet. Man kann keine Ausbildung in diesem Sinne machen. Man kann den Leuten über die Schulter schauen, aber dass man beim Lektorat den Ton des Autors wahrt, muss man halt lernen. Mit jedem Projekt wird es besser.

Sie arbeiten im Bereich Sachbuch, haben aber auch Erfahrungen im Bereich Belletristik. Wo macht Ihnen die Arbeit am meisten Spaß? 

Kratz: Die Abwechslung macht’s. Die kann man natürlich nicht immer haben. Aber ich arbeite gerne im Sachbuch-Lektorat, weil es viele Einflussmöglichkeiten gibt. Weil man oft mit dem Autor zusammen die Konzeption auf die Beine stellt. In der Belletristik macht es Spaß, sich über stilistische Details austauschen zu können: Wie ist das mit dieser Metapher hier? Wie mit der Figurenzeichnung? Oder ob dieser Erzählstrang jetzt wirklich unbedingt sein muss?

Käme ein Tausch mit Julia Ditschke, also mit dem freien Lektorat, für Sie in Frage?

Kratz: Da kann ich ganz klar sagen: Nein! Das hat zwei Gründe. Der eine ist, dass ich nicht der Typ für die Selbstständigkeit bin. Ich brauche eine gewisse Sicherheit. Der andere ist, ich mag einen gewissen Trubel. Wer das mag, ist im Verlag ganz gut aufgehoben. Ich kann viel durch Deutschland reisen. Mir macht es Spaß, abends Autoren zu Lesungen zu begleiten und immer wieder neue Menschen kennenzulernen. Manchmal wird mir das zu viel, dann würde ich gerne tauschen – aber nur für kurze Zeit (lacht).

Im Beruf müssen Sie viel lesen, haben Sie denn dann im Urlaub noch Lust zu lesen?

Kratz: Viele Kollegen nutzen die Zeit, im Urlaub Bücher aus Konkurrenzverlagen zu lesen. Oder Klassiker, die man immer schon mal lesen wollte. Ich bin da eher untypisch. Ich muss im Urlaub nicht unbedingt lesen, sondern kann auch stundenlang aufs Meer starren. Aber das darf ich gar nicht so laut sagen (lacht).

Was sollte man Ihrer Meinung nach als Hochschulabsolvent*in fürs Lektorat mitbringen?

Kratz: Man sollte leidenschaftlich gerne mit Texten arbeiten. Und man sollte neugierig auf die Welt sein. Es ist ein Wechselspiel zwischen beidem.

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