Lyrische (Lebens-)Stationen: Christoph Wenzel im Porträt

“Nach dem Text ist man ein anderer als vor dem Text” lautet das Schreibmotto von Christoph Wenzel  (Foto: Carsten Vogel).

Von Anna-Lena Brandt (in Zusammenarbeit mit Manon Schnabel).

Premiere im Workshop von „Germanistik im Beruf“. Zum ersten Mal liest ein Gast seinen Vortrag aus einem Manuskript von vorn bis hinten ab. Aus gutem Grund: Christoph Wenzel hat nämlich eigens für diesen Tag eine unterhaltsame Erzählung geschrieben, in der er seinen Weg zum Lyriker in einzelnen Lebensstationen schildert. So verwandelt er den Vortrag in eine literarische Lesung, der Studierende und Lehrende gebannt zuhören.

„Ich schreibe, weil ich es liebe, geschrieben zu haben. Nach dem Text ist man ein anderer als vor dem Text”, sagt Wenzel. Er liest ruhig und mit sonorer Stimme. Man merkt, hier liest ein Profi, der Publikum gewohnt ist. Sein Vortrag verdeutlicht, dass Schreiben etwas Ernsthaftes, ja Existenzielles für ihn darstellt. Allerdings kann der Schreibprozess auch mal ins Stocken geraten: “Dann hilft es, etwas anderes zu machen, also gegen die eigenen Routinen anzuarbeiten. Das kann auch die Lektüre eines Wikipedia-Artikels sein. Hauptsache, es erzeugt einen Impuls, der das Schreiben und das poetische Denken wieder in Gang setzt.”

Gedichte, Brotjob, Promotion

Während seiner Schulzeit fehlte Wenzel noch der Bezug zur Literatur und zum Schreiben – als Leistungskurse fürs Abitur wählte er Physik und Mathematik. Zur Literatur kommt der 1979 im münsterländischen Teil von Hamm geborene Autor erst nach seiner Schulzeit. Er beginnt damit, selbst zu schreiben und sich während seines Studiums der Germanistik und Anglistik an der RWTH Aachen mit anderen schreibenden Kommiliton*innen zu vernetzen. Im Alter von 25 Jahren wird Wenzels erster Gedichtband zeit aus der karte veröffentlicht. In der gleichen Zeit gründet er die Zeitschrift und den gleichnamigen Literaturverlag [SIC].

Mit 28 Jahren stellt Wenzel fest, dass es “irgendwie anders gehen muss”, da er mit dem Veröffentlichen von Gedichten nicht dauerhaft und ausreichend Geld verdient. Das Einkommen reicht für den Lebensunterhalt einfach nicht aus. “Selbst in erfolgreichen Jahren bleibt die Notwendigkeit eines Brotjobs”, betont Wenzel in seinem Vortrag und hebt auf seine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dekanat der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen ab. Bis heute versucht er das Gleichgewicht zwischen seiner Leidenschaft fürs Schreiben und seinem Uni-Job zu finden. Nach seinem Debüt erscheinen die Gedichtbände tagebrüche (2010), weg vom fenster (2012) und lidschluss (2015). Zwischendurch promoviert er auch noch mit einer Arbeit zu Franz Kafka.

Für seine Gedichte, mit denen er auf oft humorvolle Weise „die Ober- und Zwischentöne der Sprache durchmisst“ (so der Klappentext von lidschluss),erhält er im Laufe der Jahre verschiedene Literaturpreise, u.a. den renommierten Literaturpreis der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit e.V. (GWK), den Förderpreis des Landes NRW sowie den Dresdner Lyrikpreis. Im Herbst 2021 veröffentlicht er mit drei weiteren Herausgeber*innen Brotjobs und Literatur, ein Sammelband, in dem zahlreiche Autor*innen über die Gratwanderung zwischen Schreibtischarbeit und Erwerbsarbeit Auskunft geben. „Es war einfach an der Zeit, mit diesen Problemen mal an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Wenzel später in einem an den Vortrag anschließenden gemeinsamen Gespräch.

Vom Rheinischen Braunkohlerevier zurück ins Münsterland

In diesem Gespräch hebt Wenzel auch hervor, wie wichtig Kalkül und Erregung fürs Schreiben sind: „Sonst könnte man auch Gebrauchsanweisungen verfassen. Nur allzu wütend sollte man nicht sein.“ Wütend machen können jedoch die Themen durchaus, um die es in seinen Gedichten geht. Beim Braunkohleabbau im Rheinischen Revier zum Beispiel verschwinden ganze Dörfer, deren Gemeinden zum Umsiedeln gezwungen werden. Ein Thema, das ihn stark berührt, nicht zuletzt wegen der Nähe zu seinem eigenen Wohnort Aachen. „Das ist völliger Irrsinn, weil man so den Menschen ihre Heimat nimmt, und das für eine ökologisch fatale Braunkohleverstromung“, regt Wenzel sich auf.

Wenn ihn ein Thema fasziniert, beginnt die Recherche. Wenzel fährt selbst in die jeweilige Region, schießt Fotos, beschäftigt sich mit der Lokalgeschichte und versucht auf diese Art und Weise, sich einen Eindruck von Landschaft und Leuten zu machen. U.a. hat ihn sein Weg auch zurück ins Münsterland geführt, wo er für den Lyrikweg der “Burg Hülshoff – Center for Literature” Gedichte Verse verfasste. Mit Annette Droste-Hülshoff hat Wenzel sich ohnehin schon des Öfteren auseinandergesetzt. In seinem Band lidschluss zitiert er sogar ausdrücklich und mit lakonischem Witz ihre „Bilder aus Westfalen“: „Wenn wir von westfalen reden, weilt die droste auf schloss heessen / und schläft so schön in reclam-heften auf den hinterbänken / eines landschulheims.“