Interview mit Stephan Brössel: Es begann mit „ES“
Von Jasper Zeitz und Charlotte Stein.
Stephan Brössel ist Akademischer Rat auf Zeit am Germanistischen Institut der WWU. Er hat über das Thema „filmisches Erzählen“ promoviert. Im Interview erläutert er den Zusammenhang von Drehbuch und Filmanalyse – und er erzählt, wie er über seinen ersten Horrorfilm zur Filmwissenschaft kam.
Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Erzähltheorie. Könnten Sie kurz umreißen, was man darunter versteht?
Stephan Brössel: Die Erzähltheorie beschäftigt sich mit dem Erzählen als Phänomen, das seit jeher in den unterschiedlichsten Kulturen und Medien vorkommt. Es geht also um das, was in der Wissenschaft eine anthropologische Universalie genannt wird: Dem Menschen ist das Erzählen ein Bedürfnis. Die Erzähltheorie ist in den 1970er Jahren entstanden. Sie geht in der Form, wie sie heute vorwiegend Anwendung findet, zurück auf den französischen Strukturalismus.
Was macht die Erzähltheorie für Sie so spannend?
Stephan Brössel: Wie gesagt: Das Erzählen ist universell. Dass es beispielsweise Märchen in Grönland, in Russland und in Europa gibt, die in ihrer Erzählstruktur identisch sind, hat mir die Augen geöffnet. Immerhin hatten die Menschen dieser Kulturen in dieser Hinsicht wohl keinen Kontakt zueinander. Und überhaupt: Denken Sie einmal daran, in welchen Zusammenhängen das Erzählen auftritt – im Spielfilm, in der Werbung, in Urban Legends und ganz banal im alltäglichen Miteinander. Genau das macht die Erzähltheorie für mich spannend: Sie macht Zusammenhänge dieser Art versteh- und kommunizierbar und liefert ein Handwerkszeug zu deren Beschreibung.
Kennen und schätzen gelernt habe ich die Erzähltheorie während meines Studiums in Wuppertal am Zentrum für Erzählforschung.
Was hebt denn das filmische Erzählen von anderen Erzählformen ab?
Stephan Brössel: Wenn Sie sich überlegen, wie oft Sie im Alltag mit Filmen in Berührung kommen, beispielsweise mit Werbespots, mit Spiel- oder auch Lehrfilmen, dann werden Sie schnell feststellen, wie wichtig dieses Medium seit seiner Erfindung vor nun etwa 120 Jahren geworden ist. Der Film ist ein multimodales Medium, bestehend aus mehreren Komponenten – auditiven, visuellen und textlichen. Insofern bringt er schon allein, was die Verwendung seiner Mittel anbelangt, eine gewisse Komplexität mit sich, die sich auch im Erzählen niederschlägt.
Bleiben wir beim Thema Film, genauer gesagt, bei der Filmanalyse. Wie gehen Sie dabei vor?
Stephan Brössel: Ich versuche, mir das Leben leicht zu machen, denn schwer wird es im Laufe der Analyse von allein (lacht). Natürlich muss man den Film erst einmal sichten. Ich versuche mich dabei auf das zu konzentrieren, was auf Bild- und Tonebene vermittelt wird. Und blende alles Äußere aus, also: wer den Film produziert hat, wie ich mich beim Anschauen des Films fühle etc. Die Leit- und Ausgangsfrage, die ich auch immer in Seminaren stelle, lautet: Was wird wie präsentiert? Kontexte, wie den kulturellen Entstehungskontext, zieht man erst in den nachfolgenden Analyseschritten heran.
Funktioniert es denn immer, die emotionale und persönliche Ebene auszublenden? Gerade auch bei Filmen, die sehr ernste Themen behandeln, ist das doch bestimmt nicht einfach.
Stephan Brössel: Nein, es ist sogar sehr schwierig. Aber vielleicht arbeite ich deshalb auch so gerne zum Film (lacht). Als Jugendlicher habe ich mir „ES“ angeschaut, die erste Verfilmung des Horror-Romans von Stephen King aus dem Jahr 1990. Die hat mich eine Woche lang bis in den Schlaf hinein verfolgt. Ein prägendes Erlebnis! Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, wie es dieser Film eigentlich geschafft hat, mir solche Angst einzujagen. Ich wusste doch, dass sich alles nur auf dem Bildschirm abspielt. Wahrscheinlich beschäftige ich mich aus diesem Grund heute wissenschaftlich mit dem Genre Horrorfilm.
Generell ist es nicht immer einfach, die persönliche und die wissenschaftliche Ebene voneinander zu trennen. Sinnvoll ist es auf jeden Fall, einen Film mehrere Male anzuschauen. Dadurch entsteht eine Distanz, die für die Analyse wichtig ist.
Wie oft schaut man sich dann einen Film in der Regel an?
Stephan Brössel: Letztlich ist das ein Erfahrungswert. Ich betreibe die Filmanalyse seit über zehn Jahren – da bekommt man mit der Zeit ein gutes filmisches Gedächtnis. Eine Grundregel lautet: Man sollte einen Film im Zweifelsfall zu oft schauen! Den Film „Amadeus“ beispielsweise habe ich ungefähr zwanzigmal gesehen. Und jedes Mal ist mir etwas Neues aufgefallen. Mittlerweile schaue ich einen Film drei- bis fünfmal.
Schaut man sich den Film direkt mehrmals hintereinander an? Mir wurde zum Beispiel der Tipp gegeben, den Film „Fight Club“ direkt zweimal hintereinander anzuschauen.
Stephan Brössel: Das ist ein gutes Beispiel. Das kommt natürlich ganz auf den Film selbst an. Gerade bei den mind-bender-Filmen ist das sehr sinnvoll. Für die Analyse eines ‚normalen‘ Films lohnt es sich aber, dem Ganzen ein wenig Raum zu lassen. Den Modellentwurf einer filmischen Welt muss man erst einmal im Kopf zusammensetzen. Das braucht ein bisschen Zeit.
Ich habe den Eindruck, dass Drehbücher nie für eine Filmanalyse herangezogen werden. Warum eigentlich nicht?
Stephan Brössel: Das hat mehrere Gründe. Zunächst einmal haben wir es ja nicht mit einem Film, sondern mit einem anderen Medium zu tun. Beide Medien sollte man klar voneinander unterscheiden. Natürlich könnte man eine Drehbuchanalyse vornehmen, die genauso spannend und aufschlussreich wäre – allerdings das wäre dann eben keine Filmanalyse. Außerdem kommt man an Drehbücher – vor allem an die der großen Blockbuster – nur schlecht heran. Wenn man jedoch die Drehbücher prominenter Autor*innen in die Hände kriegt, weil sie publiziert wurden oder bereits archiviert sind, dann kann man sie nutzen und die Beziehung zum jeweiligen Film rekonstruieren. Das wäre dann gewissermaßen eine Kontextualisierung des Films: Wie sieht der Schritt vom Drehbuch zum Film aus? Wie ist die schriftsprachliche Vorlage umgesetzt worden? Welche filmischen Darstellungsformen sind auf welche Art und Weise im Drehbuch angelegt?
Haben Sie denn schon einmal auf ein Drehbuch für eine Filmanalyse zurückgegriffen?
Stephan Brössel: Jein. In meiner Dissertation habe ich in einem Teilkapitel das Drehbuch zu Robert Wienes Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ einbezogen. Die Frage war, wie der Film eigentlich zu erzählen ‚lernt‘: Wie wird im Drehbuch erzählt und wie im Film? Schaut man sich den Film vor der Vergleichsfolie des Drehbuchs an, stellt man fest, dass er sowohl auf die Struktur des Dramas als auch auf die des Romans beziehungsweise der Novelle zurückgreift – er wird gewissermaßen ‚literarisisiert‘ Diese Perspektive hat allerdings in erster Linie den historischen Blick auf den Film gestützt und einen Zeitpunkt in den Blick gerückt, als auch noch das Drehbuch jung war.
Sie sind auch Teil der Film- und Fernsehforschung am Germanistischen Institut der Uni Münster. Das klingt im Zeitalter von Streamingdiensten wie Netflix, AmazonPrime und nun auch Disney+ ziemlich traditionell. Würden auch Serien wie „Dark“ oder „Dogs of Berlin“ als Gegenstand Ihrer Forschung infrage kommen, obwohl sie eben nicht im Kino oder im Fernsehen laufen?
Stephan Brössel: Doch, auf jeden Fall. Gerade „Dark“ ist für mich hochgradig spannend – insbesondere auch deshalb, weil ich mich intensiv mit Zeitstrukturen im Film auseinandersetze. „Dark“ ist eine deutsche Serie, die es ihrer Qualität nach durchaus mit US-amerikanischen oder englischen Serien aufnehmen kann. Doch so oder so: Serien stellen inzwischen neben dem Kinofilm das Medium filmischen Erzählens überhaupt dar. Auch sie machen einen Gegenstandsbereich der Film- und Fernsehforschung hier am Institut aus, ja.
Was die Streamingdienste angeht, so leben wir in einem spannenden Zeitalter und können – nicht zum ersten Mal – eine Diversifikation der Medienlandschaft beobachten. Diversifikation bedeutet immer auch Konkurrenz und Konkurrenz hat stets einen deutlichen Einfluss auf die Produktion: Vor allem im Serien-Sektor ist dementsprechend seit einiger Zeit ein enormes kreatives Potenzial zu beobachten. Grundsätzlich spielt für mich zwar nur eine nachrangige Rolle, wo filmische Inhalte präsentiert werden – obwohl das natürlich ein Faktor in der Analyse sein kann. Bei „Dark“ zum Beispiel sieht man, dass die narrative Feinjustierung eine andere ist als bei Serien, die Werbepausen schalten müssen oder bei denen lange Zeiträume zwischen dem Erscheinen der einzelnen Folgen liegen.
Weil man „Dark“ staffelweise „bingen“ kann.
Stephan Brössel: Genau. Das, was man in der Filmwissenschaft ‚dispositives Setting’ nennt, kann für die Inhalte eine Rolle spielen: Wo werden sie präsentiert? Im Fernsehen? Im Kino? Auf einem Streamingportal? Oder werden Sie viral über die sozialen Netzwerke verbreitet? Ich glaube, das ist mitbestimmend für die Art und Weise, wie diese Formate gestaltet sind. Insgesamt funktioniert die recht verwirrende Serie „Dark“ doch nur auch deshalb, weil man als Zuschauer immer wieder zurückspringen und vorherige Folgen sichten und sich einen Überblick über die Zusammenhänge verschaffen kann. Das wäre im Fernsehen so nicht möglich.
Gibt es Filme, die Ihrer Meinung nach jeder einmal gesehen haben sollte?
Stephan Brössel: Da hat sicher jeder seine eigenen Favoriten und die können sich zudem jeden Monat ändern. Und ganz bestimmt gibt es nicht den einen ‚Meisterfilm’. Aber „Citizen Kane“ von Orson Welles sollte meines Erachtens jeder gesehen haben: Noch heute ist es überwältigend, wie modern und großartig dieser Film seine Geschichte erzählt, wie griffig, gewitzt und packend, obwohl er vor fast 80 Jahren gedreht wurde! Der Film hat mich über die Jahre verfolgt und wird mich auch weiterhin begleiten.
Könnten Sie sich vorstellen, selbst mal ein Drehbuch zu schreiben?
Stephan Brössel: Das habe ich tatsächlich schon getan. Anfang der 2000er habe ich das Drehbuch zu einem Kurzfilm geschrieben, der Errare humanum est heißen sollte.
Ich habe mich damals an Quentin Tarantinos Filmen orientiert. Die Handlung bestand aus mehreren Strängen, die am Ende – natürlich auf unglücklich-tragische Art und Weise – zusammenfinden sollten. Leider ist es zum Dreh nie gekommen, weil ich ihn ‚handmade’ machen wollte mit Leuten aus dem Freundeskreis. Beispielsweise gab es zwei Darsteller, die sich nicht küssen wollten, und solche Sachen (lacht). Das Projekt ist also aus ganz banalen Gründen nie realisiert worden.
Damals habe ich mich zum ersten Mal intensiv mit dem Format beschäftigt und erkannt, wie schwer es ist, ein Drehbuch zu schreiben. Dass Drehbuchautor*in ein eigener Beruf ist, hat schon seine Richtigkeit. Drehbuchschreiben hat eben nicht nur etwas mit Kreativität zu tun, es ist auch ein Handwerk, das beherrscht sein will.
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