Julia Ditschke im Interview: Das freie Lektorat als Gemischtwarenhandel

Julia Ditschke im Gespräch mit Laura-Kristin Vormann. (Foto: Carsten Vogel)
Julia Ditschke im Gespräch mit Laura-Kristin Vormann. (Foto: Carsten Vogel)

Von Laura-Kristin Vormann.

Welche Genres beanspruchen die meiste Zeit?
Julia Ditschke: Das kann man nicht verallgemeinern. Das kommt immer auf die Qualität des Textes an. Allerdings ist es so, dass deutschsprachige Originalausgaben deutlich mehr Zeit beanspruchen als Übersetzungen. Bei originalen Erstausgaben geht es beim Lektorieren noch um die Grundstruktur und die Dramaturgie des Textes. Bei Übersetzungen aus dem Englischen wird das in der Regel bereits vom englischen Lektorat bearbeitet. Zudem spielt der Textumfang natürlich eine Rolle. 

An wie vielen Projekten arbeiten Sie denn gleichzeitig?
Ditschke: Das variiert zwischen eins und fünf.

Wie gehen Roman-Autor*innen damit um, wenn Sie beispielsweise Figuren streichen?
Ditschke: Das ist natürlich ein harter Eingriff. Es gibt Autor*innen, die möchten alles so lassen, wie es ist. Es gilt dann, gut zu begründen, warum das Buch nach der Änderung besser ist. Meistens gelingt es mir, auch objektiv nachvollziehbar zu argumentieren und die Autor*innen dazu zu bewegen, mitzugehen … manchmal zähneknirschend (lacht).

Wenn man wie Sie sämtliche Bereiche eines Verlags kennengelernt hat – verändert das die Zusammenarbeit?
Ditschke: Es war sehr interessant für mich, erstmals auf der anderen Seite zu sitzen und selbst als Autorin lektoriert zu werden. Und gesagt zu bekommen – das ist jetzt wirklich nicht übertrieben: „Schreib die 400 Seiten bitte noch mal ganz neu“ (lacht). Bei der Kritik ging es um Dramaturgie, nicht um Sprache. Es war für mich unfassbar, wie betriebsblind ich bei meinem eigenen Text bin. Da ich alle Abteilungen in einem Verlag kenne, informiere ich mich natürlich darüber, was sie im Hinblick auf mein Buch tun. Ich möchte darüber Bescheid wissen, wie das Buch vermarktet wird. Die Verlage sind derlei Rückfragen von anderen Autoren nicht immer gewohnt; für mich sind solche Informationen jedoch wichtig. 

Hat das Lektorieren zahlreicher Manuskripte Ihre Arbeit als Autorin beeinflusst? 
Ditschke: Das ist ein wechselseitiges Verhältnis. Seitdem ich selbst schreibe, habe ich ein viel besseres Verständnis für die Probleme von Autor*innen. Es ist gar nicht so einfach, einen runden Plot hinzubekommen. Ich habe durch das eigene Schreiben ganz andere Strategien entwickelt, die ich den Autor*innen mitgeben kann. Und andersherum: Immer wenn ich schreibe, lektoriere ich schon. Das kann ich einfach nicht lassen. Dadurch brauche ich viel länger für zehn Seiten als andere Autor*innen.

Wie versuchen Sie das zu ändern?
Ditschke: Ich mache momentan beim „NaNoWriMo“ mit, dem National Novel Writing Month. International schließen sich tausende Autoren über die Website nanowrimo.org zusammen und verpflichten sich dazu, im November 50.000 Wörter zu schreiben. Das sind über 200 Seiten. Diese enorme Menge ist natürlich nicht machbar, wenn die innere Lektorin allzu präsent ist. Um das bewusst abzuschalten, habe ich mich dort angemeldet – und bin an meine Grenzen gestoßen. Ich musste meinen Perfektionismus ganz oft ignorieren. Letztendlich habe ich das nicht geschafft. Bei 35.000 Wörtern bin ich hängen geblieben. Aber das ist für mich für mich schon unheimlich viel in einem Monat. 

Wie ist Schwangerschaft und Elternzeit vereinbar mit dem Beruf als freie Lektorin?
Ditschke: Das war gar nicht so leicht. Ich hatte vorgehabt, mich ein Jahr lang komplett rauszunehmen. Meinen Kunden habe ich Bescheid gegeben, dass ich in dieser Zeit keine Aufträge annehme und mich melde, sobald ich wieder einsatzbereit bin. Ich hatte keine Angst, dass ich nach der Elternzeit keine Aufträge mehr bekomme. Alle hatten Verständnis. Es war vielmehr so, dass ich selber nicht von dem Thema ablassen konnte. Schließlich fielen der Verkauf meines erstens Romans an einen Verlag und die Geburt meines Sohnes in denselben Zeitraum. Da das Lektorat anstand, musste ich relativ viel mit dem Verlag kommunizieren und hatte dadurch den Finger wieder in der Branche (lacht). Das hat es mir wirklich schwer gemacht, loszulassen

Wie haben Sie angefangen zu lektorieren?
Ditschke: Ein wichtiger Punkt war, dass ich den Goldfinch Verlag für Reiseführer gegründet hatte. Dadurch konnte ich ganz anders bei Verlagen anklopfen, auf meinen Verlag hinweisen und den Wunsch äußern, auch bei anderen Reisebuchverlagen lektorieren zu wollen. So bin ich ins Lektorieren reingerutscht. Und Reiseberichte sind dann ja auch nicht mehr so weit weg von der Belletristik.

Julia Ditschke im Interview während des Workshops. (Foto: Carsten Vogel)

Welche Rolle spielten die Angebote des Verbands der Freien Lektorinnen und Lektoren (VFLL) oder der Bücherfrauen?
Ditschke: Die von den Bücherfrauen organisierten Stammtische spielten tatsächlich auch eine wichtige Rolle. Da habe ich viele andere freie Lektor*innen kennengelernt und wertvolle Tipps erhalten. Und die Bücherfrauen bieten in mehreren Städten ein sogenanntes Mentoring an. Dort kann man sich melden, wenn man in ein Berufsfeld im Verlagswesen rein möchte, und wird dann als Mentee einer Mentorin zugeordnet, die diesen Beruf bereits ausübt. Mit dieser trifft man sich dann circa sechsmal innerhalb eines Jahres und erhält zusätzlich Aufgaben, die man bearbeitet. Außerdem gibt es noch ein Fest, auf dem alle Mentorinnen und Mentees zusammenkommen. Durch dieses Programm habe ich mit einer Sachbuchlektorin zusammengefunden, mit der ich parallel an ihren Texten gearbeitet habe. Schlussendlich hat sie mir sogar Aufträge weitergegeben. Das war toll.

Wieso haben Sie den Reisebuchbereich eigentlich verlassen?
Ditschke: Irgendwann war ich das Reiseführerlektorat leid. Natürlich klingt “Reisebuch” irgendwie schön – gleichzeitig ist das Genre sehr formal aufgebaut. Man muss die ganze Zeit die engen Vorgaben beachten und sehr viel im Internet recherchieren. Sind alle Telefonnummern und Öffnungszeiten korrekt? Existieren alle Hotels, Bars, Restaurants etc. noch?

Haben Sie Lieblingsgenres, die Sie besonders gerne lektorieren?
Ditschke: Ich könnte mich nicht für eine Seite – Sachbuch oder Belletristik – entscheiden. Mir gefällt die Mischung. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich Studierenden raten soll, sich zu spezialisieren. Ich habe Kolleginnen, die beispielsweise nur Krimis oder nur Kinderbücher lektorieren. Das hat sicherlich Vorteile. Ich bin eher eine Gemischtwarenhändlerin (lacht). Ich kann mich in sämtliche Themen einarbeiten. Ganz nach dem Prinzip learning by doing; irgendwie wird’s schon gehen. Und das tut es dann auch. 

Unter Ihrem Pseudonym „Julia Kaufhold“ sind Bücher mit Titeln wie “Sex and the Dorf” oder “Löffelchenliebe” erschienen. Bedienen Sie in diesen Romanen Gender-Klischees?
Ditschke: Meine ersten beiden Romane sind dem Genre Chick-Lit zuzuordnen. Dazu gehören beispielsweise Romane wie “Bridget Jones”. Im weitesten Sinne handelt es sich also um Romantic Comedy. Da sitzt man als Autor*in natürlich immer zwischen den Stühlen: Man bedient diese Klischees einerseits und spielt andererseits aber auch damit. Die Klischees haben mich dann aber doch gestört, weshalb ich in meinem dritten Roman zumindest versucht habe, manche Dinge umzudrehen. Der gehört allerdings auch nicht mehr zur Chick-Lit. Es geht zwar immer noch um Liebe, aber es ist etwas ernster geworden. Meine Heldin ist Unfallchirurgin und verdient das Geld, während der Mann Fotograf ist, also eher der Künstlertyp. Das wurde damals tatsächlich von einem Verlag abgelehnt, der sagte: „Wir verlegen das Buch nur dann, wenn die Heldin Krankenschwester ist.“ Ein großer Publikumsverlag sagte: „Wir veröffentlichen keine Frauenunterhaltung, in der Frauen Akademikerinnen sind.“ Da soll immer etwas mitschwingen wie bei “Fifty Shades of Grey” – das Mädchen und der reiche, schöne Mann. Das ein bisschen zu unterlaufen, soweit es in dem Genre eben geht, macht mir schon Spaß. 

Wie wird man als Autor*in bezahlt?
Ditschke:
 Man erhält einen sogenannten Vorschuss. Ich persönlich hatte dabei das große Glück, dass die Verlage in meinen Manuskripten immer ein gewisses Potenzial gesehen haben. Das hat sich leider nicht immer bestätigt. Ob ein Roman erfolgreich wird, hängt dabei manchmal weniger von der Qualität ab als davon, in welchen Titel der Verlag letztendlich Geld fürs Marketing reinsteckt. Dadurch liegt der Roman dann bei Thalia auf dem Tisch. Denn welche Bücher dort liegen, entscheidet nicht der Buchhandel, sondern welcher Verlag mehr zahlt. Dieser Titel hat dann natürlich viel bessere Chancen, ein Bestseller zu werden. Der Effekt des Marketings ist allerdings nicht vorauszusehen, sonst könnte man Bestseller ja planen. Es gibt auch Fälle, in denen ein Verlag ein Buch ganz billig eingekauft hat, das dann plötzlich zum Mega-Bestseller wird. Das ist dann natürlich der Lottogewinn für einen Verlag. Und wenn das nächstes Buch wieder bei diesem Verlag erscheinen soll, hat man als Autor*in natürlich allerbeste Verhandlungsmöglichkeiten.

Was muss man bei Verlagen vorweisen, wenn man sich um Aufträge bewirbt?
Ditschke: Wirklich wichtig für freie Lektor*innen sind Referenzen: eine Liste von Texten, die man bereits lektoriert hat. Es ist wichtig für den Verlag zu sehen, dass man schon Erfahrung mitbringt. Deshalb ist es ganz am Anfang schwierig. Da muss man die eigenen Netzwerke nutzen. Wenn man ein Praktikum bei einem Verlag absolviert hat, sollte man danach durch Gutachten und Korrektorate mit dem entsprechenden Verlag verbunden bleiben. Möglicherweise kann man im Praktikum selbst schon erste Referenzen sammeln. Hinterher fragt kein Verlag mehr danach, was man studiert hat. Es sei denn, man hat beispielsweise Romanistik studiert und möchte Übersetzungen aus dem Italienischen ins Deutsche lektorieren. Da hat man dann meistens gute Chancen.

Haben Ihre Kontakte Ihnen dabei geholfen, einen Verlag für die eigenen Bücher zu finden?
Ditschke: Es ist heutzutage nicht mehr so, dass Autor*innen sich selbst an einen Verlag wenden. Das passiert natürlich auch, aber diese Texte landen dann auf dem Stapel der „unverlangt eingesandten Manuskripte“ und da liegen sie oft lange herum. Darum bewirbt man sich als Autor*in besser bei einer Literaturagentur, die das entsprechende Genre Verlagen gegenüber anbietet. Es ist von Agentur zu Agentur unterschiedlich, wie viele Seiten bei der Bewerbung gefordert werden. Es können 30 oder 60 sein; einige Agenturen verlangen allerdings auch den ganzen Roman. Der Verlag weiß: Was von der Agentur kommt, sollten wir uns wenigstens mal anschauen. Ich hatte das Glück, relativ schnell eine Agentur zu finden, die meine Manuskripte auch recht zügig verkaufen konnte.

Sie haben auch bei einer solchen Agentur gearbeitet?
Ditschke: Ja, genau. Die Agentur hat Drehbuchautor*innen an Filmproduktionen vermittelt. Also im Grunde genommen der gleiche Vorgang, wie Literaturagenturen Sachbuch- oder Romanautor*innen an Verlage vermitteln.

Inwiefern hat Ihnen das bei der Bewerbung geholfen? 
Ditschke: Für mich war es im Hinblick auf die Bewerbung bei Literaturagenturen schon gut zu wissen, wie es da läuft. Ich fühle mich generell sicherer, wenn ich den Kosmos schon kenne, in dem ich mich bewegen möchte.

Sind Praktika und Seminare neben dem Studium unentbehrlich, wenn man Lektor*in werden möchte?
Ditschke: Ich weiß nicht, ob ein Besuch von Seminaren neben dem Studium notwendig ist. Ich gehe mal von dem Fall aus, dass man neben dem Studium bereits ein oder zwei Praktika absolviert hat und in einem kleinen Verlag vielleicht sogar die Möglichkeit gehabt hat, mit zu lektorieren. Dadurch hat man dann bereits eine Referenz. Nach einem solchen Praktikum ist der Besuch eines einschlägigen Seminars, etwa bei der Akademie der Deutschen Medien, vielleicht eher sinnvoll.

Empfehlen Sie, anfangs ein Praktikum in einem großen oder in einem kleinen Verlag?
Ditschke: Es hat beides Vor- und Nachteile. In einem großen Verlag würde man wahrscheinlich ein reines Lektoratspraktikum machen. In einem kleinen kann man in allen Bereichen mitarbeiten, man wird von Anfang an voll mit einbezogen. Bei großen Verlagen hingegen kann es vielleicht schon mal vorkommen, dass Aufgaben auf einen abgeschoben werden, die einen nicht weiterbringen. Deshalb finde ich es ratsam, sowohl bei einem großen als auch bei einem kleinen Verlag ein Praktikum zu machen, um sich einen Überblick zu verschaffen. 

Was ist Ihnen am freien Lektorat besonders wichtig?
Ditschke: Ich finde es wichtig, dass man das freie Lektorat nicht als minderwertig ansieht. Man darf nicht denken, nur weil man es nicht zur Festanstellung geschafft hat, muss ich mich jetzt wohl als freie*r Lektor*in durchschlagen. Man muss für sich selbst entscheiden, was besser zu einem passt. Ich bin der Überzeugung, dass man mit vollem Herzen dabei sein kann und sagen kann: „Ja, ich will freie Lektorin werden.“

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